Digitale Zwillinge
So minimieren Sie Unsicherheiten in modernen Systembereitstellungen
Digitale Zwillinge bringen radikale technologische Neuerungen mit sich, von denen in den kommenden Jahren zahlreiche industrielle Unternehmungen profitieren werden. Durch diese Technologie ist es möglich, detailgenaue virtuelle Repräsentationen komplexer Systeme der realen Welt zu erstellen und zu prüfen, wie sich diese über den Verlauf ihrer Nutzungszeit oder bei Eintritt bestimmter Szenarien verhalten. Daraus können extrem wertvolle Erkenntnisse gewonnen werden. Dieser Ansatz ermöglicht ein besseres Verständnis dessen, wie sich die einzelnen Elemente einer komplexen technischen Anwendung zueinander und zu ihrer Umgebung verhalten werden. Probleme, die die betriebliche Effizienz eines Systems oder deren Zuverlässigkeit auf lange Sicht erheblich beeinträchtigen könnten, können so identifiziert und angegangen werden.
Die Grundprinzipien der digitalen Zwillingstechnologie wurden vor rund zwanzig Jahren von Dr. Michael Grieves formuliert, einem damals an der University of Michigan tätigen Wissenschaftler. Zu jener Zeit handelte es sich dabei jedoch nur um ein Konzept, da die zur detailgenauen Erstellung digitaler Zwillinge benötigte Computertechnologie noch gar nicht existierte. Ein Zeitgenosse Grieves‘, John Vickers von der NASA, gilt als Urheber des Begriffs „digitaler Zwilling“, den er im Rahmen seines 2010 erschienenen Berichts zu dem Thema verwendet hat. Innerhalb des letzten Jahrzehnts hat das Interesse an dieser Technologie immer weiter zugenommen. Das Analyseunternehmen Markets & Markets schätzt inzwischen, dass das jährlich durch den Sektor der digitalen Zwillingstechnologie generierte Geschäftsvolumen bis 2025 auf stattliche 35,8 Milliarden USD anwachsen wird (was sich auch mit den Vorhersagen anderer Organisationen deckt).
Auch im Bereich der Konstruktion und Entwicklung wird diese Technologie zu einer entscheidenden Beschleunigung der Abläufe beitragen. Das herkömmliche Verfahren, bei dem eine Reihe verschiedener physischer Prototypen konstruiert und dann getestet wird, kann extrem zeitaufwendig sein und Projekte erheblich verlangsamen. Daher bringt es grosse Vorteile mit sich, wenn man die verschiedenen Facetten simulieren und ausführlich untersuchen kann. Dabei können notwendige Modifizierungen gleich umgesetzt werden, ohne dass man den virtuellen Raum verlassen muss. Dies führt zu stark verkürzten Entwicklungszyklen, da weniger menschliche Ressourcen benötigt werden und sich der technische Gesamtaufwand eines Projekts reduziert. Zu den Bereichen, in denen schon erste auf digitalen Zwillingen basierende Entwicklungen umgesetzt werden, gehören Avionik- und Automobilprojekte der nächsten Generation. Die Technologie sorgt für eine höhere Zuverlässigkeit, was wiederum der Sicherheit von Flugzeug- und Automobilinsassen zugutekommt.
Digitale Zwillinge helfen nicht nur dabei, schon vor der Konstruktion eines Systems einzuschätzen, wie sich dieses verhalten wird, sondern sie können auch bei vorhandenen Systemen zum Einsatz kommen. Im industriellen Kontext können digitale Zwillinge etwa auf ganze Werksanlagen angewandt werden und hier eine Plattform bieten, im Rahmen derer eine erheblich genauere Analyse, Diagnose und Fehlerbehebung durchgeführt werden kann. Als Grundlage zukünftiger Industrie-4.0-Projekte werden sie die Erweiterung von Workflows und die Optimierung wichtiger Prozesse ermöglichen. Dadurch kann sowohl der Durchsatz von Anlagen als auch die Qualität der von den Anlagen hergestellten Produkte verbessert werden. Die Auswirkungen, die eine an einem Punkt vorgenommene Änderung für die darauffolgenden Schritte im Workflow/Prozess hat, können eingeschätzt werden, bevor eine Massnahme tatsächlich umgesetzt wird. Man könnte also beispielsweise ein Szenario durchspielen, bei dem ein Fliessband in einer Fabrik mit höherer Geschwindigkeit betrieben wird. Mithilfe des erstellten digitalen Zwillings wäre es nun möglich, die daraus resultierenden Folgen abzuschätzen, beispielsweise die Auswirkungen auf die Qualität des hergestellten Produkts, den Verschleiss der einzelnen Komponenten innerhalb der Fertigungsanlage oder den Stromverbrauch. Auf dieser Grundlage ist dann eine wirklich fundierte Entscheidung darüber möglich, welche Massnahmen zum besten Ergebnis führen – ob also z. B. für eine Steigerung des Produktionsdurchsatzes höhere Betriebskosten oder ein Anstieg der Produktretouren in Kauf genommen werden sollen.
Durch digitale Zwillinge können auch vorausschauende Instandhaltungsmassnahmen auf ein System angewandt werden, da sich die Abnutzung einzelner Bestandteile (im Verhältnis zu verschiedenen Betriebsbedingungen, zukünftigen Situationen usw.) kalkulieren lässt. Dies ermöglicht eine genau Vorhersage, wann Teilkomponenten ersetzt werden müssen, sodass die Anlagenwartung erheblich besser geplant werden kann. Auf diesem Wege kann das Risiko von Ausfallzeiten (infolge von Störungen) und von Verzögerungen, die durch Reparaturarbeiten entstehen, minimiert werden.
Wesentliche Aspekte der Technologie
Um einen digitalen Zwilling eines Systems zu erstellen, ist der Zugang zu riesigen Datenmengen erforderlich. Eine ganze Reihe verteilter Sensoren muss dazu kontinuierlich Datenströme zu diversen Betriebsparametern liefern. In vielen Fällen ist daher das aufstrebende Internet der Dinge (IoT) eine Kernvoraussetzung, die die Konstruktion digitaler Zwillinge überhaupt erst möglich machen wird. Die benötigten Daten werden entweder erfasst und in Echtzeit verarbeitet oder können unter Umständen auch aus vorhandenen, älteren Datensätzen herangezogen werden. Dieser Zugriff auf grosse Datenmengen ist der entscheidende Unterschied zu herkömmlichen Computersimulationen, da sich digitale Zwillinge nicht auf blosse Annahmen über die Funktionsweise der Systeme, sondern auf kontinuierlich bereitgestellte objektive Tatsachen stützen. Sobald die Datensätze zusammengestellt wurden, können komplexe Algorithmen darauf angewandt werden.
Künstliche Intelligenz (KI) ist eine weitere Schlüsseltechnologie, die bei der Datennutzung für digitale Zwillinge zum Einsatz kommt. Wenn die benötigten Daten vorliegen, können diese durch umfassende, cloudbasierte Computerressourcen verarbeitet werden. In einem zweiten Schritt besteht dann die Möglichkeit, KI-Modelle darauf anzuwenden. Dabei kann eine Vielzahl unterschiedlicher Aspekte untersucht werden. Es wäre ebenfalls denkbar, dies mit erweiterter Realität (Augmented Reality, AR) zu kombinieren – etwa, indem ein digitaler Zwilling über ein physisches System gelegt wird, um so zu einem besseren Verständnis der Vorgänge zu gelangen. Dadurch könnte ein Fachingenieur Ratschläge zur Reparatur oder zum Ausbau einer externen Anlage bereitstellen, ohne dafür vor Ort zu sein (sodass Zeit und Geld gespart würden).
Standardisierung und Kompatibilität
Die Erstellung digitaler Zwillinge auf Basis eigener Technologien wird jedoch nicht ausreichen, da so die Vorteile einer Integration nicht ausgeschöpft werden können. Folglich besteht in diesem Sektor ein dringender Bedarf an Standardisierung. Dementsprechend wurde der ISO-Standard ISO 23247-1 entwickelt. Diese Norm liefert geregelte Rahmenbedingungen für die Konstruktion digitaler Zwillinge im Fertigungssektor. Durch sie wird ermöglicht, dass seitens der verschiedenen Anlagenhersteller einheitliche Architekturen verwendet werden und so digitale Zwillinge, die für verschiedene Elemente des Werks erstellt wurden, miteinander kombiniert werden können.
Organisationen wie das Digital Twin Consortium, zu deren Mitgliedern GE, Microsoft, Dell und Ansys gehören, setzen sich ebenfalls für eine beschleunigte Einführung dieser Technologie ein. Hierzu soll die Verwendung einer gemeinsamen Systematik für den gesamten Bereich, die Entwicklung eines offenen Quellcodes und die Etablierung von branchenweit anerkannten Programmierschnittstellen (APIs) gefördert werden.
Je grösser die Kompatibilität digitaler Zwillinge ist, desto besser sind die Voraussetzungen für eine Zusammenarbeit zwischen den vielen verschiedenen Anlagenherstellern und -dienstleistern, die in die Installation von Systemen eingebunden sind. Dies wird auf alle Bereiche zutreffen – sei es in Bezug auf eine Flugzeugturbine, ein Elektrofahrzeug, eine Fertigungsanlage, eine Ölraffinerie oder die Infrastruktur einer Smart City.